In sechs Monaten werde ich mein Abiturzeugnis in der Hand halten, sofern ich mich in den folgenden Wochen nicht einweisen lasse, denn seit geraumer Zeit holen mich ab und zu Gedanken ein, die einer existentiellen Krise nahekommen:
Während einige aus meinem Jahrgang Bewerbungen an ihre Traum-Universität schreiben oder zumindest einen Plan aus den Optionen A-Z haben, habe ich alle einstigen Pläne, Ziele und Wünsche verworfen.
So langsam nähere ich mich der lang ersehnten Schwelle zum Erwachsenenleben. Ich fühle mich lange nicht erwachsen. Die Zeit der Oberstufe ging zu schleppend und zugleich zu schnell vorüber.
Ich habe in den unteren Jahrgängen geglaubt, ich würde in der 12ten genau wissen, was nach dem Abitur auf mich zukommt. Tatsächlich weiß ich nach all den Jahren viel. Und zugleich weiß ich nichts.
Was habe ich in der Oberstufe gelernt?
Ich kann erklären, wie Teilchen, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind, miteinander reagieren.
Ich kann auch erklären, wie Menschen vergangener Jahrzehnte einst miteinander reagierten und welche weitreichende Folgen dies bis in unsere Gegenwart hatte.
Ich kann auch erklären, was uns die Zukunft bringt, wenn wir nicht auf gegenwärtige Probleme wie politische Konflikte oder die Klimakrise reagieren.
Was meine eigene Zukunft betrifft, weiß ich jedoch gar nichts. Und das Witzige ist: Ich reagiere auch nicht.
Ich habe gelernt, mit Kleingeistern in meinen Kursen umzugehen bzw. sie schlichtweg – widerwillig – irgendwie zu tolerieren.
Ich habe das Prokrastinieren perfektioniert, einen stark ausgeprägten Perfektionismus entwickelt und meinen Schlaf effizient auf durchschnittlich vier Stunden limitiert: Drei Komponenten, die sich gegenseitig im Weg stehen, wenn das eine gedeiht, geht das andere ein; negative Rückkopplung, so hieß es doch in der Biologie.
Und wofür das Ganze?
Erfolge lösen bei mir mittlerweile keine Glückshormone aus, während geringste Niederlagen nahezu nach einer Strafe schreien. Bei jeder Klausur kotze ich all den mühselig erlernten Stoff auf das Blatt und kurz nach Abgabe hat er meinen Kopf nachhaltig verlassen. Das Lernen ist an diesem Punkt lediglich ein Stichwort auf der To-Do-Liste.
Wo ist meine Neugier hin? Warum sind für mich alle neuen Informationen so gleichgültig oder erscheinen gar wie eine ungeheuerliche Bedrohung? Bloß mehr Stoff, der für das Abitur beherrscht werden muss!
An diesem Punkt ist es natürlich verlockend, das gesamte Bildungssystem zu hinterfragen: Der Lernprozess ist so versteift, so systematisch. Wichtige Kompetenzen für das spätere Leben werden nicht erlernt. Und so sehr sich die Schule mit Programmen wie der Berufsorientierung damit bemüht, künftigen Absolvent*innen zur Seite zu stehen, so werden wir doch so ziemlich uns selbst überlassen.
Vielleicht ist ja auch die Arbeitseinstellung unserer heutigen Gesellschaft das wahre Problem. Warum wagen sich jährlich immer mehr Schüler*innen an das Abitur? Wir wollen vielleicht studieren, alle möglichen Freiheiten bei der Berufswahl haben, sofern es nicht an finanziellen Mitteln scheitert. Doch ist das Studium oftmals nicht weit genug gedacht, nicht jedes Studienfach bringt dieselbe bunte und sichere Auswahl auf dem Arbeitsmarkt.Ich habe die Wahl, meine Interessensgebiete weiter zu studieren, doch finde ich damit Lohnarbeit? Nicht jedem ermöglicht die Arbeit eine Selbstverwirklichung. In den meisten Fällen arbeitet man nur, weil man das Geld braucht. Und wenn der Traumberuf daran scheitert, dass er einen nicht durchfinanzieren kann, dann läuft etwas schief.
Aber eine andere Welt ist utopisch – und für das Anzetteln einer Revolution habe ich doch gar keine Zeit, ich muss noch etliche Hausarbeiten machen.
Wenn man sich keine Sorgen um die Finanzierung seines zukünftigen Selbsts machen müsste, würde man sich vielleicht auch Fehler bei der Berufswahl erlauben. Das Leben ist schließlich dafür da, um Fehler zu machen. Doch gleicht seit der Schule jeder Fehler einem Punktabzug, der einen näher zur schlechteren Note bringt.
Sekunde, worauf wollte ich jetzt eigentlich hinaus?
Ja, ich habe absolut keinen Plan für meine Zeit nach dem Juni 2024.
Grundsätzlich fühle ich mich nicht bereit die Schule zu verlassen.
13 Jahre lang war ich Teil einer Schulgemeinschaft, das macht gut 70 Prozent meiner bisherigen Lebenszeit aus.
Natürlich ist eine solche Veränderung beängstigend: Ich verliere bestimmt die gute Mehrheit meines sozialen Umfelds, meine Tagesroutine wird sich verändern, mein alltäglicher Schulweg wird Geschichte sein. Doch muss dieser Schritt einfach überwunden werden, so unangenehm er erscheint.
Die Schule ist leider so ordentlich konzipiert, dass sie uns auf die Unordnung der Erwachsenenwelt nicht vorbereiten kann. Das liegt in unserer eigenen Verantwortung. Und dem muss man sich bewusst sein, auch wenn es fast schon peinlich einzugestehen ist, dass die eigenen Ängste tatsächlich selbstverschuldet oder grundlos sind.
Der angeborene Überlebensinstinkt eines jeden Lebewesens wird mich schon davon abhalten nach dem Abitur auf der Straße zu landen. Immerhin habe ich meine komplette Facharbeit in der Nacht vor Abgabe geschrieben und es trotzdem überstanden. Ich prokrastiniere nicht nur meine Pflichten gern, sondern wohl oder übel auch meine Entscheidung über die Zukunft.
Und wozu sollte man jetzt schon einen Plan haben, wenn letztendlich alle Zukunft ungewiss ist.
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